13. Dezember 2018
Wer war Gall Morel?

Gall Morel: Geboren am 24. März 1803 als Benedikt Morel in der Ostschweiz. 1820 Eintritt ins Kloster Einsiedeln. Am 6. Dezember 1872 an einer Lungenentzündung gestorben. Und dazwischen? Das Leben eines Mönchs eignet sich schlecht für biografisches Erzählen. Auch die Leben von Historikern und Philologen nicht. Bei Gall Morel kommen all diese Eigenschaften zusammen.

Gall Morel: Benediktinermönch und Privatgelehrter, Seelsorger und Dichter, Philologe und Historiker. Das Nidwaldner Volksblatt schrieb in einem Nachruf im genretypischen Pathos: «Sein Name wird über die Stiftsglocken von Einsiedeln hinaustönen über unsere Schweizerberge, hinaus in die Weltstadt Paris, hinein ins Welschland bis vor Sanct Peters ewigem Dom in Rom, mit den Strahlen der Abendsonne hinüberziehen über das Weltmeer, bis ins ferne Amerika.» Im Professbuch des Klosters heisst es schlicht, Gall Morel sei der «universalste Geist, den das Stift besessen». Was wir also wissen: Gall Morel war irgendwie wichtig. Was wir nicht wissen: Weshalb eigentlich genau. Denn die Nachwelt hat sich in den fast 150 Jahren seit seinem Tod nur wenig mit ihm beschäftigt.

Ausser dem Amt des Abtes hatte Gall Morel eigentlich jedes Klosteramt inne: Er war 37 Jahre lang Klosterbibliothekar, ein «Bücherjäger», wie er selbst sagte. Er war 46 Jahre lang Lehrer für Philosophie und Rhetorik an der Schule, 36 Jahre lang Präfekt und dann Rektor der Schule, ein «Schulmann», wie man damals sagte. Er hat Lehr- und Schulbücher verfasst, war mehrere Jahre lang Erziehungsrat und Schulinspektor im Kanton Schwyz und Mitautor des Schwyzer Schulgesetzes von 1848. Und: Die Stiftsschule machte unter seiner Leitung den Schritt von einer bescheidenen Rekrutierungsanstalt für Nachwuchsmönche zu einer offenen humanistischen Bildungsinstitution.

Gall Morel: ein musischer Mensch und ein vorzüglicher Geigenspieler. Er hat den Grundstein gelegt zur bedeutenden Musikbibliothek des Klosters, war einige Jahre lang Kapellmeister, hat mit Schülern im Kloster Opern aufgeführt. Religiöse Lieder aus seiner Feder stehen heute noch im Kirchengesangbuch.

Gall Morel: Volksschriftsteller, religiöser Lyriker und Verfasser von manchem geselligen Trinkspruch. Seine Gedichte belebten Kalender, Zeitschriften, Andachtsbilder und zieren heute noch Weinetiketten. Er verfasste pädagogische und lokalhistorische Theaterstücke, darunter «Dr Franzos im Ybrig», der später von Meinrad Lienert und noch später von Thomas Hürlimann adaptiert wurde.

Er machte, wie man aus der Lektüre seiner Tagebücher erfährt, gerne lange Spaziergänge ins «Tannzapfenparadies» Einsiedeln, las unterwegs Shakespeare, Horaz, Goethe und notierte sich Ideen für neue Gedichte. Er unternahm lange Reisen nach Mailand, Genua, Rom, Subiaco, Assisi, Florenz, München, Wien, Paris und Nürnberg. Dort besuchte er die grossen Kunstsammlungen, Kathedralen, Bibliotheken. Diese Reisen waren sein persönliches «Jagdvergnügen», auf denen er Manuskripte, Bücher und Kunstwerke erlegte.

Gall Morel: Klosterarchivar, Philologe und Wissenschaftler. Je trockener die Materie, desto mehr Freude machte sie ihm. Er sammelte Bücher und Manuskripte, Käfer, Schmetterlinge und Münzen, Gemälde und Kupferstiche, verfasste archivarische Listen und Regesten, führte Zettelkästen, legte lange Register an und schaffte so die Grundlage für wissenschaftliches Arbeiten im Kloster.

Vielleicht am wichtigsten: Gall Morel war ein Networker. 1840 war er Mitgründer der schweizerischen geschichtsforschenden Gesellschaft (heute Schweizerische Gesellschaft für Geschichte), wenig später Gründungsmitglied des Historischen Vereins der fünf Orte (heute Historischer Verein Zentralschweiz), bald Ehrenmitglied des Vereins für vaterländische Altertümer in Zürich und bald Mitglied in weiteren gelehrten Gesellschaften von Graubünden bis Genf und von Nürnberg bis Luzern. Wenn ein Mittelalterforscher in Nürnberg die Inschrift einer gotischen Kathedrale nicht entziffern konnte, dann schrieb er Gall Morel einen Brief. Wenn der berühmte Zürcher Archäologe Ferdinand Keller eine Arbeit über Siegel in der Schweiz abfasste, dann schrieb er Gall Morel einen Brief. Und wenn ein St. Galler Geograph wissen wollte, ob es im Kanton Schwyz eigentlich Bartgeier gebe, dann fragte er Gall Morel.

Auch wichtig: Gall Morel hatte Sinn für Ironie: Einer seiner Leitsprüche, so sein Biograf Pater Benno Kühne, war: «Fuge ceu pestem, ten polypragmosyne» – «Meide wie die Pest die Vieltuerei».

Der Historiker, der sich im Jahr 2018 vertieft und ernsthaft mit der Biografie Gall Morels auseinandersetzen wollte (lohnen würde es sich zweifelsohne), würde sich indes kaum mit Anekdotischem begnügen und auch nicht mit der positivistischen Addierung seiner Ämter und Schriften. Er würde seine Tagebücher lesen, die im Klosterarchiv dutzendfach überliefert sind, seine umfangreiche Korrespondenz auswerten, und nach den konkreten Bedingungen seiner Wissenschaft und Schriftstellerei fragen. Mit wem stand er in Kontakt? Was für Gedanken und was für Objekte tauschte er mit seinen Korrespondenzpartnern? Und der Historiker würde wohl auch fragen, ob Gall Morels philologisch-wissenschaftliche Lebensleistung dem Hirn eines einzelnen genialen Universalgelehrten entsprang oder vielleicht doch eher das Produkt eines grösseren Kollektivs war.

P.S.: Eine Abteilung der Ausstellung Ein himmlisch Werk. Musik aus dem Kloster Einsiedeln (ab Mai 2019 im Museum Fram) wird Gall Morel gewidmet sein.

 

Literatur:

Benno Kühne, P. Gall Morel. Ein Mönchsleben aus dem XIX. Jahrhundert, Einsiedeln 1875 (Digitalisat online: reader.digitale-sammlungen.de).

Sebastian Brändli, Die «Antiquaren» in Einsiedeln. Gall Morel und seine Zürcher Freunde, in Äbte, Amtleute, Archivare. Zürich und das Kloster Einsiedeln, Zürich 2009, 100-124.

Anton Gössi, «Hätt ich doch nimmer gedacht, dass in Rom so Vieles zu finden!» Die Italienreisen des Einsiedler Paters Gall Morel, in Vedi Napoli e poi muori. Grand Tour der Mönche, hrsg. von der Stiftsbibliothek St. Gallen, St. Gallen 2014, 231-237.