10. Januar 2019
Streik! Eine «moderne Gesslergeschichte» in Einsiedeln
Gastbeitrag von Patrick Schönbächler

«Wohl der denkwürdigste Streik, der seit Bestehen der schweiz. Arbeiterorganisation geführt wurde», meinte die Helvetische Typographia zum Streik beim Benziger Verlag, der zwischen dem 27. Januar und 27. April 1900 in Einsiedeln stattfand. Ausgelöst wurden die Unruhen aber bereits im September des Vorjahres, als Charles Benziger-Gottfried, der technische Direktor, eine Lohnreduktion von 20-25% ankündigte. Die auf den Platz gerufene Gewerkschaft, die Helvetische Typographia, engagierte sich für die Angestellten, organisierte und unterstützte diese. Bis dahin hatte die Verlegerfamilie Benziger jeglichen Arbeiterbewegungen und -organisationen den Garaus gemacht. Man war aber nicht nur gewillt, solche zu unterbinden, sondern weigerte sich überhaupt, mit ihnen direkt zu verhandeln.

Denkwürdig waren Lohnreduktionsaffäre und Streik in Einsiedeln bei der Firma Benziger aufgrund der besonderen Affiche: Gewerkschaft und Arbeiterbewegung in katholischen Stammlanden, in einem Wallfahrtsort und noch bei den «Typographen des hl. Stuhls», so der vom Papst verliehene Ehrentitel der Firma.

Klar zu Tage trat in der Auseinandersetzung, dass die um 1900 kontrovers diskutierte Frage, ob es eine «Neutralität der Gewerkschaften» gebe oder nicht, zu verneinen war. Einem katholischen Männer- und Arbeiterverein – das zeigte sich in Einsiedeln – fehlten aus christlicher Überzeugung nicht bloss die Kampfmittel, sondern auch die Kampfbereitschaft; und ein Arbeitskampf, wenn er sich denn als unumgänglich und notwendig erwies, war aus damaliger Sicht per se «socialdemokratisch» und verpönt.

Fast logische Folge dieses «Musterstreiks» war der für die seinerzeitigen Verhältnisse unglaubliche Medien- und Propagandakrieg, der hauptsächlich zwischen der «sozialdemokratischen Presse» und dem Einsiedler Anzeiger sowie der Firma Benziger stattfand und schweizweit mit Vehemenz ausgetragen wurde. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung erschien in der Satirezeitschrift «Der Neue Postillon» eine Darstellung, die den Konflikt als «moderne Gesslergeschichte» zeigte.

Der Streik bei der Firma Benziger umfasste nur einen Teil der Belegschaft. Es war keine totale Solidarität aller Arbeiter der Firma Benziger vorhanden. Von insgesamt etwa 500 Arbeitern streikte lediglich ein Drittel.

 

Vermittlungsbemühungen des Schwyzer Regierungsrates, des Einsiedler Abtes oder auch des Bischofs von Chur führten zu keinem Erfolg. Eher ernüchternd war, dass die Einigung letztlich auch ohne Beteiligung der Gewerkschaften zustande kam, nämlich – mit Hilfestellung des Bezirksrates von Einsiedeln – durch eine Zwölfer-Delegation der Belegschaft. Dennoch ist die Rolle der Gewerkschaften im Ganzen als zentral und wichtig einzustufen, weil sie den Streik durch die finanzielle und ideelle Unterstützung überhaupt erst ermöglicht hatten. Sachlich betrachtet gingen die Arbeiter gestärkt aus der Auseinandersetzung hervor und hatten sich die Arbeitsbedingungen für die meisten von ihnen – mit Ausnahme wohl am ehesten der Hilfsarbeiter – merklich verbessert.

Die Helvetische Typographia meinte abschliessend: «Eines ist sicher, dass in der finstern Waldstatt ein Samenkorn ausgestreut wurde, das nie mehr ganz zu ersticken sein wird.»

 

Literatur:

Daniel Meienberg, Der Streik bei der Verlagsanstalt Benziger in Einsiedeln im Jahr 1900, Lizentiatsarbeit Zürich 2009.

Heinz Nauer, Fromme Industrie, Der Benziger Verlag Einsiedeln 1750-1970, Baden 2017.

Patrick Schönbächler, Der Buchdrucker-Streik bei Benziger, oder die Geschichte einer Arbeiterbewegung bei den «Typographen des hl. Stuhls» im katholischen Wallfahrtsort Einsiedeln, in: Mitteilungen des Historischen Vereins des Kantons Schwyz 110 (2018), S. 231ff.

 

Patrick Schönbächler, 50, ist Alumnus der Stiftsschule Einsiedeln, promovierter Jurist, und ein Kenner der Einsiedler Lokalgeschichte. Sein Privatarchiv umfasst über 30‘000 Ansichten, Drucke, Fotografien aus Einsiedeln für die Zeit von 1500 bis heute. Weitere Informationen finden Sie hier: www.hejbsch.ch