10. April 2018
Trouvaillen aus der Sammlung: Wie Winnetou in Einsiedeln getauft wurde

Schwer verwundet bittet Winnetou eine Gruppe von weissen Siedlern, ihm das „Ave Maria“ vorzusingen. Anschliessend stirbt er in den Armen seines Freundes Old Shatterhand. Seine letzten Worte sind: „Schar-lih, ich glaube an den Heiland. Winnetou ist ein Christ. Lebe wohl!“ So steht es im dritten Roman der Winnetou-Trilogie, die 1893 in Freiburg in Breisgau erstmals in Buchform erschien.

Doch war Winnetou überhaupt getauft und durfte so auf den Himmel der Christen hoffen oder verabschiedete er sich als Ungetaufter in die ewigen Jagdgründe? Diese Frage treibt die Fan- und Forschergemeinschaft rund um Karl May, den Schöpfer von Winnetou, Old Shatterhand und von vielen weiteren literarischen Abenteurern, seit mehr als 100 Jahren um.

Die Antwort ist: Winnetou war getauft. Seine Taufpaten waren die US-amerikanische Jugendautorin und Übersetzerin Marion Ames Taggart und der Benziger Verlag Einsiedeln. Taggart, wie Winnetou eine Konvertitin (sie konvertierte mit 14 Jahren zum Katholizismus), übersetzte die Winnetou-Romane von Karl May im Auftrag der New Yorker Niederlassung des Benziger Verlags wenige Jahre nach deren erstmaligem Erscheinen ins Englische. Die Übersetzungen erschienen 1898 unter den Titeln „Winnetou, the Apache Knight“ und „The Treasure of Nugget Mountain“.

 

Die Übersetzungen waren von Karl May nicht autorisiert. Und wo es dem Verlag und der Übersetzerin nötig schien, nahmen sie Änderungen vor. Old Shatterhand ist in der englischen Ausgabe kein junger Deutscher aus St. Louis namens Karl, sondern ein studierter Ingenieur aus gutem amerikanischem Haus namens Jack. Und: Winnetou muss nicht ungetauft sterben. Taggart lässt Old Shatterhand in der englischen Ausgabe kurzerhand eine Nottaufe durchführen: Er nimmt seine Wasserflasche, sprenkelt dreimal etwas Wasser auf die Stirn seines schwer verwundeten Blutsbruders und spricht zu ihm: „Winnetou, I baptize thee, in the name of the Father, and of the Son, and of the Holy Ghost.“ Winnetous Körper erzittert und er stirbt.

 

Eine ausführliche Darstellung von Karl Mays Beziehungen zu Einsiedeln finden sich hier in einem Aufsatz von Br. Gerold Zenoni.

PDF Zenoni – Karl May